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Amtshaftung Jugendamt wegen fehlerhaftem Gutachten

OLG Koblenz, 18.03.2016 – 1 U 832/15

Ein Rechtsmediziner, der im Auftrag des Jugendamtes zur Gefahreneinschätzung vor einer Inobhutnahme handelt, haftet nicht selbst nach §839a BGB. Denn insoweit ist er Amtsträger i.S. §839 BGB, so dass eine Eigenhaftung gem. Art. 34 GG ausgeschlossen ist. Amtshaftung Jugendamt wegen fehlerhaftem Gutachten wurde dadurch allerdings so weit bejaht, dass die Schadenszahlung im Fall Diemers vergleichsweise erledigt werden konnte. Es sollen, so hier die Informationen, 107.000 € gewesen sein.

Keine persönliche Haftung der von einem Jugendamt beauftragten Sachverständigen für grob fehlerhaftes Gutachten

Es kommt also immer darauf an, wer den Gutachter bestellt und wann dies erfolgt. Erfolgt die Gutachterbestellung durch die Eltern, dann haftet dieser entweder nach allgemeinen Regeln, wenn eine Entscheidung i.S. §839a BGB nicht ergangen ist, oder eben nach §839a BGB direkt. Wenn er durch das Gericht bestellt wird, haftet er immer nach §839a BGB.

Doch erfolgt vor einem gerichtlichen Verfahren, im Verwaltungsverfahren, die Tätigkeit, die zum Schaden führt, dann haftet die Behörde.

Ob jenseits dessen eine Haftungsgrundlage auch im allgemeinen Deliktsrecht (§§ 823 ff. BGB) gefunden werden kann, mag dahinstehen. Nach überkommenem Rechtsverständnis haftete der Sachverständige (nur) bei einem schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht oder sonst ein absolutes Rechtsgut bei einer leichtfertig unrichtigen, der Sachkunde völlig entbehrenden Begutachtung (vgl. BGH NJW 1989, 2941; OLG Schleswig NJW 1995, 791OLG Frankfurt OLGR 2008, 300 Tz. 31; s. auch BVerfGE 49, 304, 316 ff.).

OLG Koblenz 1 U 832/15

Schwerwiegende Eingriffe in absolute Rechtsgüter notwendig

Nur schwerwiegende Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht oder sonst absolute Rechtsgüter können insoweit zu einer Haftung führen. Solche absoluten Rechtsgüter sind Leben, körperliche Unversehrtheit (in §823 BGB noch als „Körper und Gesundheit“ benannt) und Freiheit. Die rechtlich spannende Frage ist, ob bei Kindesentziehung durch Inobhutnahme eine Freiheitsentziehung auch dergestalt vorliegt, dass die Eltern dann gezwungen sind in der Nähe des Kindes zu leben oder Kontaktabbruch als Gesundheitsschaden zu provozieren. Dies ist meines Wissens aber noch ungeklärt.

Unverwertbares Gutachten

b) Die Beklagte zu 2. hatte im Auftrag des Jugendamtes ein Gutachten nach Aktenlage zu erstellen; ihr lagen die Krankenblattunterlagen der beiden Kinder sowie Auszüge aus der Ermittlungsakte betreffend den Verkehrsunfall vom 17. April 2012 vor. In ihrer Begutachtung – Rechtsmedizinische Einschätzung – vom 23. Mai 2013 hat die Beklagte zu 2. im Hinblick auf den Kläger zu 4. eine sichere Beurteilungsgrundlage wegen „derzeit zu spärlicher Anknüpfungstatsachen“ vermisst; im Hinblick auf den Kläger zu 3. hat sie hingegen nach der Aktenlage den „hochgradigen Verdacht auf ein (wahrscheinlich mehrzeitiges) stattgehabtes Schütteltrauma“ geäußert – sich aus dem Akteninhalt ergebende alternative Ursachen hat sie dabei mit Eindeutigkeit ausgeschlossen:

Daher ist die ärztliche Einschätzung, dass es sich um einen familiär bedingten benignen Makrozephalus handeln würde, aus hiesiger Sicht in keinster Weise nachvollziehbar. (…)

Der Verkehrsunfall (…) war aus rechtsmedizinischer Sicht zweifelsfrei nicht geeignet, diese Befunde zu verursachen.

OLG Koblenz 1 U 832/15

Zielsetzung des Gutachtens entscheidend zur Zuordnung hoheitliche Tätigkeit

a) Ob sich das Handeln einer Person als Ausübung eines öffentlichen Amts darstellt, bestimmt sich danach, ob die eigentliche Zielsetzung, in deren Sinn der Betreffende tätig wird, hoheitlicher Tätigkeit zuzurechnen ist und ob zwischen dieser Zielsetzung und der schädigenden Handlung ein so enger äußerer und innerer Zusammenhang besteht, dass die Handlung ebenfalls als noch dem Bereich hoheitlicher Betätigung angehörend angesehen werden muss. Dabei ist nicht auf die Person des Handelnden, sondern auf seine Funktion, das heißt auf die Aufgabe, deren Wahrnehmung die im konkreten Fall auszuübende Tätigkeit dient, abzustellen. Dabei ist es zur Einstufung der Tätigkeit eines Prüfers (Sachverständigen) als Ausübung eines öffentlichen Amts nicht erforderlich, dass dieser selbst (zwangsweise durchsetzbare) Maßnahmen gegen die von seiner Prüftätigkeit betroffenen Personen ergreifen kann; es genügt vielmehr, dass seine Arbeit mit der Verwaltungstätigkeit einer Behörde auf das Engste zusammenhängt und er in diese so maßgeblich eingeschaltet ist, dass seine Prüfung geradezu einen Bestandteil der von der Behörde ausgeübten und sich in ihrer Verwaltungstätigkeit niederschlagenden hoheitlichen Tätigkeit bildet. Des Weiteren kann der Prüfer (Sachverständige) als Beamter im haftungsrechtlichen Sinne anzusehen sein, wenn er von einem Hoheitsträger im Einzelfall mit der Beschaffung wesentlicher Entscheidungsgrundlagen und insoweit mit einem in die Zuständigkeit des Hoheitsträgers selbst fallenden Teil einer öffentlichen Aufgabe betraut wird. Es ist weiter zu beachten, dass der gesamte Tätigkeitsbereich, der sich auf die Erfüllung einer bestimmten hoheitlichen Aufgabe bezieht, als Einheit beurteilt werden muss und es nicht angeht, die einheitliche Aufgabe in Einzelakte – teils hoheitlicher, teils bürgerlich-rechtlicher Art – aufzuspalten und einer gesonderten Beurteilung zu unterziehen (vgl. BGHZ 181, 65 = NJW-RR 2009, 1398 Tz. 10 ff.; BGHZ 191, 71 = VersR 2012, 317 Tz. 13; BGHZ 200, 253 = NJW 2014, 1665 Tz. 31).

OLG Koblenz 1 U 832/15

Da die Prüfung durch das Gutachten eng in die Verwaltungstätigkeit eingebracht war und wesentliche Entscheidungsgrundlagen lieferte, kann man den einheitlichen Lebenssachverhalt nicht in eine privatrechtliche und eine hoheitliche Komponente aufspalten.

Handeln in Ausübung des anvertrauten öffentlichen Amtes

b) In Anwendung dieser Grundsätze kann im vorliegenden Fall festgestellt werden, dass die Beklagte zu 2. in Ausübung eines ihr anvertrauten öffentlichen Amtes gehandelt hat. Das Jugendamt hat im Rahmen des ihm aufgegebenen Schutzauftrages das Risiko einer Gefährdung des Kindeswohls im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte einzuschätzen (§ 8a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Es hat unter Zeitdruck eine regelmäßig komplexe und folgenreiche Entscheidung von weitreichender Bedeutung zu treffen; hierzu dürfen neben eigenem Fachpersonal auch externe Fachkräfte (Ärzte, Psychologen, Polizeibeamte etc.) mit beratendem Status hinzugezogen werden (vgl. BeckOK SozR/Winkler, 39. Edition [Stand: September 2015], § 8a SGB VIII Rn. 7; Wiesner, SGB VIII, 5. Auflage 2015, § 8a Rn. 26 ff. und § 72 Rn. 14).

OLG Koblenz 1 U 832/15

Ein Gutachten für das Jugendamt ist kein Gutachten i.S. d. SGB X, weil sie zur Erfüllung des grundgesetzlich normierten Wächteramtes erfolgt:

Die Beklagte zu 2. wurde hier – wie bereits gezeigt (sub II.1.a) – als beratende Rechtsmedizinerin in das Fachkräfteteam des Jugendamts zur Gefahrenabschätzung integriert und sie wurde demzufolge – entgegen der Auffassung des Landgerichts – gerade nicht als (selbständige) Sachverständige im Rahmen eines (sozialrechtlichen) Verwaltungsverfahrens (i.S.d. § 21 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X) berufen. Die vom (externen) Rechtsmediziner angeforderte gutachterliche Einschätzung dient unmittelbar der Schaffung wesentlicher – regelmäßig sogar tragender – Entscheidungsgrundlagen zur Ausübung des dem Jugendamt überantworteten staatlichen Wächteramts und ist mithin besonders eng und untrennbar mit dem hoheitlichen Handeln der Behörde verbunden. Die vom Landgericht vermisste gesetzliche Grundlage findet sich – wie gezeigt – in § 8a SGB VIII. Funktion und Aufgabenbereich des Fachkräfteteams des Jugendamts sind dort hinreichend bestimmt; die Umstände der Vergütung des Sachverständigen sind ohne Belang (BGH NJW 2014, 1665 Tz. 37). Soweit der Bundesgerichtshof im Einzelfall beim Tätigwerden von Sachverständigen im behördlichen Aufgabenkreis eine Haftungsbefreiung abgelehnt hat (BGH NJW 2006, 1121NJW-RR 2009, 1398), waren diese gerade nicht als Zuarbeiter im Bereich der staatlichen Gefahrenabwehr oder der ordnungsbehördlichen Überwachung eingesetzt (Pflegeeltern; berufsgenossenschaftliche Unfallverhütung).

OLG Koblenz 1 U 832/15

Tja, das SGB VIII kennen eben nicht nur viele Familiengerichte nicht, sondern offenbar auch Landgerichte nicht.

Jedenfalls muss dann Amtshaftung Jugendamt wegen fehlerhaftem Gutachten erfolgen und nicht diejenige des Gutachters persönlich.

Quelle

Meldungen, Urteil selbst hier veröffentlicht

Vergleich der Eltern mit dem Jugendamt nicht veröffentlicht

Update: Angeblich soll in einem weiteren Verfahren herausgekommen sein, dass die Ausgangsexpertise doch richtig sein soll.

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